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Meinung/Charaktertod/SterbenStattTöten

Mehr sterben, weniger töten

Ein häufiges Reizthema in Netzdebatten über LARP ist der Charaktertod. Können, dürfen, sollen Spielercharaktere sterben? Da mir kein Fall bekannt ist, in dem eine SL einen Spieler gezwungen hätte, einen Charakter weiterzuspielen und ich mir nicht vorstellen kann, wie eine SL oder Mitspieler mich daran hindern könnten, meinen Charakter sterben zu lassen, kann das Sterben in diesen Debatten eigentlich gar nicht gemeint sein. Es geht vielmehr um das Töten anderer Charaktere. Kann, darf, soll mein Charakter andere Charaktere umbringen? Bestenfalls können noch die sozialen Implikationen einer Regelung gemeint sein, nach der der Charaktertod dem Spieler des Charakters überlassen wird.

Meine übliche Antwort auf diese Fragestellung ist der Spruch "Es sollte im LARP weniger getötet und mehr gestorben werden."

Mit "es sollte weniger getötet werden" meine ich, daß der Charaktertod Sache des Spielers des Charakters sein sollte, denn nur er hat Überblick über die Charaktergeschichte und mögliche noch unerfüllte Pläne. Eine Charaktergeschichte ist in meinen Augen eben eine Geschichte und der Spieler des Charakters ist der letztendlich verantwortliche Autor dieser Geschichte. Natürlich entscheidet der Spieler nicht über jedes Detail der Geschichte, sonst würde das interaktive Element, das LARP überhaupt erst ausmacht und von der dramatischen Dichtung unterscheidet, verloren gehen. Aber meiner Ansicht nach sollte über einschneidende Ereignisse in der Charaktergeschichte und vor allem deren Beendigung der Spieler selbst ein gewisses Maß an Kontrolle haben. Eine bessere Metapher wäre vielleicht, daß der Spieler eines Charakters der Herausgeber oder Chefredakteur der Charaktergeschichte ist, die von allen Spielern geschrieben wird, die mir dem Charakter interagieren. Die Vorgehensweise, bei der der Spieler selbst entscheidet, ob ein Charakter stirbt, wird im Allgemeinen "Opferregel" genannt.

Ich befürworte die Opferregel und finde, daß viele Spieler generell zu leichtfertig zum Mittel der Tötung greifen. Extreme Religionen, überzogene Ehrbegriffe, übertriebene Vorstellungen von mittelalterlicher Justiz. Vielen Spielern fällt als einziges Stilmittel, einen Konflikt im Rollenspiel auszutragen, nur der Charaktertod ein.

Feindschaften zwischen einzelnen Charakteren arten mir zu oft in hirnlosen Vendetta-Bodycounts aus. Konkurrenz zwischen Charakteren kann etwas Tolles sein, aber eine schön gespielte Konkurrenz besteht nicht in der Charaktertötung. Im Gegenteil, der Tod beendet sie. Eine lang gepflegte Feindschaft wäre dagegen supertolles Rollenspiel. Es ist auch in der Literatur ein nicht selten gebrauchtes Klischee, daß sich Todfeinde nicht töten, weil einen guten Feind zum abgrundtief Hassen findet man selten ;-)

Es wird hier gerne erwidert, daß es ja ein logischer Bruch sei, wenn man sein "Konzept" am Ende doch immer aufgeben muß, um den andern laufen zu lassen. Da meine ich allerdings, daß jemand, der von sich behauptet, ein phantasie-betontes Hobby zu haben, in der Lage sein sollte, einen Kompromiß zu erdenken. Natürlich ist das ein gehobener Anspruch an den Spieler. Statt den Widersacher einfach "abzulegen", muß ich mir ausdenken, wie und warum mir das plausibel nicht gelingt oder ich es auf einmal nicht mehr will.

Mir geht es darum, daß Umhauen nun mal kein besonders tolles Rollenspiel ist. Um genau zu sein, beendet es jede Chance auf Rollenspiel und befriedigt lediglich irgendwelche pubertären oder sonstwie primatenhaften Machtinstinkte: "Auf X-Con habe ich Y abgelegt."

Ich will gar nicht sagen, dass es nicht zuweilen auch sinnvoll sein kann, einen SC zu töten, aber ich finde, dass solche Tode zu oft die einfachste, dümmste und dramaturgisch uninteressante Lösung eines Konflikts sind. Mal ganz von den zu vielen Fällen abgesehen, in denen das Motiv sowieso mehr OOC als IC ist.

Der Tod eines Charakters beendet (meist) jedes Rollenspiel und sollte m.M.n. nur dann vorkommen, wenn er dramaturgisch für die Historie des Charakters selbst sinnvoll und gewünscht ist.

Ein Kritikpunkt an der Opferregel ist die Befürchtung, dass sie dazu führt, dass Charaktere zu leichtsinnig werden, da die Spieler ja wissen, dass dem Charakter nichts passieren kann. Die Charaktere werfen sich blind in aussichtslose Kämpfe, weil die Waffen ja nicht gefährlich sind. Das halte ich schlicht und ergreifend für schlechtes Rollenspiel. Die Spieler wissen in meiner Idealvorstelleung, dass ihnen nichts Finales aufgezwungen werden kann, die Charaktere sollen sich aber gefälligst so benehmen, als seien die Waffen gefährlich.

Auch wenn ich für die Opferregel bin, bin ich der Ansicht, daß nur der Spieler wissen sollte, daß es sie gibt, nicht aber der Charakter. Man hat natürlich seinen Charakter so zu spielen, als sei der sich einer Todesgefahr bewußt. Das gehört für mich, wie so vieles andere, zur Trennung zwischen Spieler- und Charakterwissen. Alles andere ist schlechtes Rollenspiel.

Ich würde z.B. auch in dem Fall, in dem jemand unter Berufung auf die Opferregel einen Kill ignoriert, erwarten, das er als Zugeständnis an den Täter irgendwas spielt, was diesem signalisiert, das schon etwas stattgefunden hat, und nicht einfach alles ignoriert. Das mag das Ausspielen einer nahezu tödlichen Wunde sein, Bettlägerigkeit für mehr als die leider übliche Viertelstunde, oder wenigstens ein überschwengliches Dankgebet für die wundersame Rettung. Irgendetwas, um die IT-Logik, die er beeinträchtigt, wieder gerade zu biegen.

Mit "es sollte mehr gestorben werden" meine ich, daß der Spieler andererseits einsehen sollte, daß eine gute Geschichte ein Ende braucht. Wenn der Charakter ein paar wichtige Ziele erreicht hat, oder sich nicht mehr weiterentwickelt, oder langweilt, dann sollte man eine Gelegenheit für ein glorreiches Ende nutzen (es nötigenfalls extra choreographieren) und sich einem neuen Charakter widmen.

Auch sollte man als Opfer erwägen, ob die Dinge, die man mit dem Charakter noch vorhatte, wirklich so wichtig sind, daß sie es rechtfertigen, die Mitspieler mit einem möglichen Bruch der IT-Logik zu konfrontieren. Wenn es plausibel ist, der Tod sich logisch aus dem Spiel ergibt und regeltechnisch korrekt verursacht wurde, sollte man vielleicht doch lieber den Löffel abgeben.

Ich argumentiere nicht für die Opferregel, weil ich gegen Charaktertode bin. Ich verbinde mit der Opferregel die Verpflichtung, in Situationen, wo es plausibel oder sogar dramaturgisch vorteilhaft ist, den Charaktertod freiwillig in Kauf zu nehmen.

Ein weiterer häufiger Kritikpunkt an der Opferregel ist die Befürchtung, Spieler könnten die Regel ausnutzen und es würde gar niemand mehr sterben.

Ursprünglich kommt die Opferregel aus dem Dunstkreis der punktelosen Regelwerke, in denen ohnehin weniger auf die heilsame Wirkung strikter Regeln vertraut wird und ist einfach die pragmatische Lösung, dafür, daß es de Facto auch bei anderen Regelwerken immer so ist, daß man keinen zwingen kann, irgendwas auszuspielen.

Wenn man es genau nimmt, bestimmt der Spieler eines Charakters auch dort selbst, wo die "Opferregel" nicht explizit gilt. Auch bei vermeintlich eindeutigen Regeln tun nur die Guten das Richtige[tm] und die Pappnasen finden Ausreden, palavern stundenlang über Regelauslegung, bequengeln SLs, lassen sich am Telefon wiederbeleben oder kommen einfach so wieder. Da es immer noch keine LARP-Polizei gibt, bleiben solche lebensverlängernden Maßnahmen selbst, wenn sie einen klaren Regelbruch bedeuten, weitgehend ohne Konsequenz. Bestenfalls spricht sich langsam herum, daß man eine Pappnase sei und man verliert ein paar Optionen bei der Wahl der Veranstaltungen. Aber diese soziale Sanktionierung wirkt nur sehr langsam, wenn überhaupt.

Letztlich sterben nur die Vernünftigen und die Arschlöcher nicht. Also kann man auch ehrlich zu sich selbst sein und gleich davon ausgehen (ob als Regel oder als Spielphilosophie, ist egal), daß das Opfer selbst entscheidet. Dann werden die Vernünftigen sterben und die Arschlöcher nicht. Was ist der Unterschied? Genau: die Nerverei zwischendurch fehlt.

Die Leute, die dieses Prinzip ausnutzen, um unkaputtbar zu sein, kann man immer noch sozial sanktionieren. Das ist bei Regelbrechern im anderen Fall ja auch die einzige Handhabe. Regel oder nicht Regel macht gemeinhin keinen Unterschied. Die Pappnasen beugen oder brechen die Regel und die Guten[tm] sterben auch mit Opferregel.

Wie schon Billy Joel sang: "Only the good die young." ;-)

Der Satz "Es sollte im LARP weniger getötet und mehr gestorben werden." ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Opferregel und ein Appell, nicht zu sehr am Charakter zu kleben. Der Spieler soll m.M.n. die Entscheidung über den Charaktertod haben, aber soll diese Freiheit verantwortungsvoll nutzen.

Wie SeeGras berichtet, gab es z.B. in Tikon auf gewissen Spielen auch schon 20% Todesquote, obwohl die Opferregel gilt. Und die wurden nicht etwa per Deus ex Machina oder durch NSCs umgelegt, sondern in jeweils verschiedenen Situationen durch andere Spieler. Die Opferregel muss also durchaus nicht bedeuten, dass es wenig Tote gibt oder gar niemand stirbt. Es kommt da wohl eher auf die Philosophie der Spieler an (Siehe GewinnenWollen).

Meine Hoffnung ist einfach, daß, wenn der Tötende weiß, daß er mit einem unplausiblen Kill nicht durchkommt, und das Opfer weiß, daß es einem unfairen Kill von der Klinge springen kann, die ganze PvP-Situation etwas unverkrampfter wird. Der Töter muß sich dreimal überlegen, ob ein Kill gut und richtig ist und das Opfer wird somit mit weniger unplausiblen Kills konfrontiert.

Vielleicht würde es, wenn alle meinen Spruch "weniger töten, mehr sterben" beherzigen würden, sogar mehr Charaktertode geben. Manch einer bemängelt, daß zuwenig gestorben wird. Ich denke, daß man dieses Problem nicht dadurch löst, daß mehr getötet wird. Das erzeugt nur Frust bei den Getöteten, aber keine Einsicht. Irgendwer hat übrigens dem obigen Spruch mal mit "Es muß schöner gestorben werden" widersprochen. Auch da ist was dran. Genauso muß aber vor allem auch wesentlich schöner ''getötet'' werden, als das zur Zeit zu beobachten ist.

Ich formuliere zu diesem Thema sehr kategorisch meine Meinung und fordere bestimmte Verhaltensweisen ein. Ich bitte das so zu verstehen, daß es hier um meine persönlichen Beobachtungen und Vorlieben im und für das Spiel geht. Selbstverständlich soll jeder, der es anders sieht, auch anders spielen. Es sollten sich nur auch in diesm Punkt wieder mal alle Spieler vor dem Spiel über die Fragen, wieviel Risiko ein Charakter trägt und mit wieviel Provokation ein Streit tödlich werden darf etc., im Klaren sein.

Leider ist auch zur Feststellung dieser Fragestellungen (insbesondere für die Spieler untereinander) die Kommunikation vor einem Spiel in der Regel nicht ausreichend.

RalfHüls - (Ursprünglich von 2002)


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