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Genres/Gaslight/Einfuehrung

Gaslicht - eine Einführung

Was ist das?

Das 19. Jahrhundert: Das Zeitalter der Romantik, der technischen Revolution, der Entdeckungen. Das letzte Jahrhundert der großen Monarchien und des Imperialismus, die Zeit der Geschichten von Charles Dickens, Jules Verne und Gottfried Keller, untermalt mit der leichten Musik der Salons und den wuchtigen Werken Ludwig van Beethovens und Richard Wagners.

Liverollenspiel in der Zeit des Gaslichts ist anders als die fantastischen Abenteuer mit Rittern, Orks und Elfen. Gespielt wird in und mit der Historie, die vielleicht in der spielerischen Verklärung etwas bunter und besser scheint, aber trotzdem das feste Gerüst für die Handlung und das Spiel ihrer Charaktere bildet. Und wie jede Historie ist auch jene des Dampfzeitalters eine Geschichte: Eine Geschichte über Menschen und ihre Gesellschaft. Und eine solche Geschichte, die im flackernden Licht einer Gaslaterne erzählt wird, ist kein Actionfilm. Natürlich ist sie voller Abenteuer, Drama und Suspense, aber grundlegend bei aller Erzählung sind immer die Handlung, die Dramaturgie der Handelnden und das Umfeld, in dem gehandelt wird. Es sind Geschichten, die Sherlock Holmes, Allan Quatermain oder Jonathan Harker erleben, in denen Jane Eyre, Effie Briest oder Anna Karenina um Anerkennung kämpfen und durch die in der Gestalt von James Moriarty, Robur oder Nikolai Stavrogin der Hauch der Gefahr weht.

Natürlich gibt es auch in solchen Erzählungen knifflige Rätsel, halsbrecherische Verfolgungsjagden, wilde Schießereien und schneidige Duelle. Aber das alles ist nur Staffage. Im Grunde geht es nämlich immer wieder um die Wünsche, Sehnsüchte und Nöte von Menschen, und um andere Menschen, die Ziel oder Hindernis dieses allzu menschlichen Strebens sind. Eine Gaslicht-Geschichte lebt also von der Person – und den Menschen, mit denen diese Person umgeht.

Was spiele ich?

Aber was sind das für Personen, über die man sich solche Geschichten erzählt? Zunächst: Eine Figur im Gaslicht ist dramatisch: Sie besitzt eine innere Dramaturgie, sie wird getrieben von Wünschen und Zielen, behindert von Schwächen und Fährnissen, verfolgt von Liebe und Hass und umgeben von Freund und Feind. Sie stammt aus dem selbstbewussten Bürgertum, dem stolzen Adel oder der arbeitenden Klasse, ist vielleicht Vertreter, Bankier, Lehrerin oder Politiker, vielleicht auch ein typischer Gentleman, eine Lady oder ein hochrangiger Würdenträger. Möglicherweise ist sie Soldat: ein schneidiger Offizier, ein kühner Husar oder ein altgedienter Oberst im Ruhestand. Vielleicht aber auch Zivilist, und als solcher Forscher, Schriftsteller oder Arzt? Eine dramatischer Figur ist in jedem Fall eines: Teil ihrer Kultur. Sie entstammt einer bestimmten Gesellschaftsschicht, fühlt sich dieser verbunden oder entfremdet, eifert ihren Zielen nach oder lehnt sie ab. Sie ist ein karrieristischer Handwerker, der sich zu Höherem berufen fühlt, ein adliges Enfant terrible, ein Mittelständler mit adligen Heiratsambitionen, oder eben ein versnobter Aristokrat, ein liberaler Bürger oder ein sozialistischer Arbeiter. Auch nationale Identitäten können eine bereits starke Figur noch anreichern: der österreichische Soldat unterscheidet sich vom britischen, und ein preußischer Schulmeister handelt sicherlich anders als sein französischer Kollege. Und schließlich steht jeder dieser Charaktere in irgendeiner Beziehung zur feinen Gesellschaft – sei es als Mitglied, als Bewunderer oder als Feind der höheren Kreise.

Ein Blick in die Geschichte und die Geschichten des 19. Jahrhunderts offenbart zahlreiche Anreize für derart spannende und unterhaltsame Charaktere, die dann entweder skurril, sinister, freundlich oder unangenehm sein können. Letztendlich wichtig ist jedoch nur eine Frage: Kann der Charakter Teil einer Geschichte sein?

Worauf achte ich?

Eine Geschichte hat Grenzen. Anfang und Ende natürlich, aber auch Grenzen innerhalb ihrer Erzählung. Diese Grenzen sind auf einer Gaslicht-Veranstaltung zunächst ganz und gar räumlich: Während etwa in den Geschichten von Karl May und nicht zuletzt Jules Verne immer der Staub der Straße und der weiten Welt aus den Seiten rieselt, kann sich die Handlung eines Liverollenspiels immer nur auf den Veranstaltungsort und seine unmittelbare Umgebung beschränken. Sicherlich kann durch einen schriftlichen Prolog, einen Telegrafen oder das Postwesen ein Gefühl von geografischer Weite erzeugt werden – die Handlung selbst ist jedoch immer stationär. Und stationär sind auch ihre Charaktere, denn bei allem Abenteuer und aller Weltbürgerlichkeit geht es trotzdem um Personen, die zum Zeitpunkt der Handlung einige Tage an einem bestimmten Ort verweilen. Der Charakter muss also sein gesamtes Potential im Gespräch und im Umgang mit anderen Charakteren entfalten können, und alle biografischen Kuriositäten sollten in diesem Rahmen einen zumindest mittelbaren Nährwert haben. Denn obwohl die handelnden Personen auf eine bewegte, vielleicht chaotische Vergangenheit zurückblicken können – die Geschichte spielt hier und jetzt, oder besser: dort und dann, nämlich zum Zeitpunkt der Veranstaltung, und nur in ihren Räumlichkeiten und deren Umgebung. Es geht nicht um John Roxton, der in Südamerika Jagd auf den Pterodakytlus macht; es geht um Phileas Fogg, der am 82. Tag im Reform Club sitzt und eine Partie Whist spielt.

Das sind die Grenzen links und rechts der Geschichte. Es gibt aber auch Grenzen oben und unten. Denn obwohl eine gute Geschichte oft von der Außergewöhnlichkeit ihrer Protagonisten (und Antagonisten) lebt, funktioniert die Geschichte einer Gaslicht-Veranstaltung nicht mit einer Armee von Generälen. Jede Figur muss auch das Potential zum Statisten haben, zum Komparsen im Hintergrund eines zeitweiligen Hauptdarstellers. Auf einer Veranstaltung mit einer Vielzahl von gleichberechtigten Teilnehmern kann die Dramaturgie nur funktionieren, wenn jede Figur sinnvoll zwischen Held und Herde pendelt.

Diese Grenze nach oben betrifft auch die Charakterwahl: Eine dramatische Figur muss der Geschichte angepasst sein, in der sie handelt. Was wären die Abenteuer von Tom Sawyer, wenn dieser nicht Indiana Joe, sondern Dracula zum Feind hätte? Sie wären jedenfalls nicht so, wie Mark Twain sie hätte haben wollen. Deshalb ist es beispielsweise nicht ratsam, zu mächtige Figuren in derart kleinen, meist leichten Geschichten auftreten zu lassen. Ein Abend im „Adimral Benbow“ kommt sicherlich auch ohne William Gladstone aus. Überhaupt ist davon abzuraten, als Charakter eine bekannte Person aus der Literatur oder der Historie zu wählen. An eine solche Figur sind oft derart viele Vorstellungen und Erwartungen gekoppelt, dass eine solche Darstellung in den Augen der Mitspieler nur durchfallen kann. Wie bei vielen Dingen ist auch bei der Charakterwahl das richtige Maß gefragt: Was passt, was funktioniert, und wie viel Macht verträgt die Geschichte, sei diese Macht nun politisch, militärisch oder sozial? Es muss nicht immer die High Society sein – auch der Mittelstand und die Arbeiterklasse eignen sich für gute Dramaturgie.

Demgegenüber tut man gut daran, bei der Inszenierung auch eine Grenze nach unten zu ziehen. Dies bedeutet, dass die Teilnehmer einer Veranstaltung ein Mindestmaß an Vorbereitung investieren. Natürlich in das Kostüm, aber vor allem in die Darstellung ihrer Figur, in deren Charakter, dessen Hintergrund, ihr Wissen und ihre Eigenarten. Natürlich kann ein Spieler nicht alles wissen über eine derart komplexe Kultur, wie sie das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Aber er sollte seine Rolle glaubwürdig vermitteln können, und in einem Spiel, das seine Qualität aus der Interaktion seiner Spieler zieht, lässt sich diese Glaubwürdigkeit eben hauptsächlich über Kompetenz im Gespräch erzeugen.

Und deshalb ist auch die Interaktion die höchste Tugend des Spiels. Hier verläuft die wichtigste und umfassendste Grenze der Geschichte: Die Grenze ihrer dramaturgischen Möglichkeit. Denn eine Geschichte inszeniert sich nicht von selbst. Natürlich kann der Impressario ihren Rahmen vorgeben und innerhalb dessen gewisse Akzente setzen. Aber sie lebt von der Handlung ihrer Figuren und ist darauf angewiesen, dass deren Spieler auch miteinander spielen.

Was mache ich?

Die Entwicklung einer dramatischen Figur beginnt nicht immer mit ihrem Namen. Oft steht eine Idee im Raum, die dann in konkrete Form gegossen werden will. Ein wichtiges Hilfsmittel dabei ist die Kleidung und Ausstattung: Was trägt die Figur wann und warum? Was trägt sie bei sich? In den Geschichten des 19. Jahrhunderts werden Figuren nicht selten zu großen Teilen über ihr Aussehen charakterisiert. Deshalb ist auch der optische Eindruck eines Charakters auf einer Gaslicht-Veranstaltung sehr wichtig: Nicht nur im Buch ist es häufig ermüdend, wenn der Autor seine Figur erst seitenlang und umständlich erläutern muss, damit der Leser sie versteht. Auch im Liverollenspiel legen nur wenige Spieler Wert darauf, vermittels Charaktergeschichte umfangreich in die Motive und Handlungen ihres Gegenübers eingeführt zu werden. Im Roman gelingt das im Rahmen der Handlung viel eindrucksvoller (und kürzer) durch Worte und Taten. Auf den Brettern, die das Liverollenspiel bedeuten, ist es deshalb vor allem die äußere Erscheinung, die einen Spieler charakterisiert, ihn also – ganz buchstäblich – in den Augen seiner Mitspieler zum Charakter werden lässt. Glücklicherweise erlebte die Fotografie im 19. Jahrhundert eine technische Blüte, und deshalb lassen sich anhand dieser frühen Lichtbilder viele Anregungen und Ideen zur entsprechenden Darstellung finden.

Neben Kostüm und Requisite einer Figur ist aber vor allem die Kenntnis ihres Hintergrunds und ihres kulturellen Umfelds wichtig: All das muss im Gespräch vermittelt werden, muss daher dem Spieler bekannt sein. Denn anders als in der fantastischen Beliebigkeit greift eine Gaslicht-Figur auf eine bestehende Kultur mit einer einheitlichen Historie zurück. Wenn also der britische Offizier sich während des Mahdi-Aufstandes verdient gemacht hat, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass er möglicherweise auf einen deutschen Gelehrten trifft, der trotz unterschiedlichem Spielansatz dennoch über bestimmte Einzelheiten durchaus im Bilde sein kann. Der Spieler muss sich also über den Hintergrund seiner Figur informieren. Aber nicht nur durch eine Anhäufung von Zahlen, Namen und Fakten – er sollte auch eine Ahnung davon haben, wie das Leben eines Soldaten im Sudan ausgesehen hat, wie sich eine Nacht im Sandsturm anfühlt und welche Marschlieder Gordons Männer auf dem Weg nach Khartoum gesungen haben könnten. Ein Gentleman hingegen sollte nicht nur wissen, wie man sich gegenüber einer Dame zu verhalten hat, sonder eben auch, wofür man beim Dinner die dreizinkige Gabel verwendet und welches Stück an den Londoner Bühnen gerade für Furore sorgt. Kurzum: Bei allem Handeln sollte man wissen, wie sich die bespielte Kultur anfühlt. Was ist zeitgemäß, was angebracht und was ganz und gar falsch?

All das erfährt man aus den zahlreichen Romanen und Erzählungen dieser Epoche. Ob Groschenromane, Trivialliteratur oder schwere dramatische Kost – sie alle vermitteln ein Gefühl für die Zeit und liefern auch Stoff für eigene Ideen. Und schließlich informiert das Internet – nicht zuletzt durch Wikipedia – ausreichend über die historische Faktenlage, auf die eine Gaslicht-Geschichte immer sich stützt. Schließlich formt sich aus allen Ideen, aller Arbeit und aller Recherche eine Figur, die durch ihren Charakter, ihre Biographie, ihre Wünsche und Ziele beinahe aus Fleisch und Blut zu bestehen scheint. Und damit beginnt die Geschichte.

-- DanielJ, 18.8.2009 (BitteNichtStören)


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