Die Zwei Regeln - Anmerkungen der Verfasserin
Es könnt' alles so einfach sein...isses aber nicht --Die fantastischen Vier
Ende 2005 habe ich mal hier im LarpWiki und in diversen LarpForen unter der Überschrift "Die einzigen zwei Regeln die LARP braucht" folgende Grundregeln gepostet:
- Wenn Du angespielt wirst, zeige irgendeine plausible Reaktion. Spiel irgendwas, egal was, aber spiel.
- Wenn Du jemanden anspielst, erwarte keine bestimmte Reaktion. Akzeptiere, was Dein Gegenüber draus macht.
Die zwei Regeln erfreuen sich unter punktelosen Spielerinnen einer wachsenden Beliebtheit und mittlerweile gibt es eine Reihe von Veranstaltungen und Veranstaltern, die sich auf sie als ausschließliche Spielregel (abgesehen von Sicherheits- und organisatorischen Regeln) berufen. Das freut mich natürlich.
In den LarpForen gibt es allerdings gelegentlich Diskussionen um und über die zwei Regeln, die eine Kommentierung ratsam erscheinen lassen. Im Folgenden gehe ich mal auf die häufigsten Fragen, Mißverständnisse und Knackpunkte ein, die mir in den Jahren aufgefallen sind.
Anspruch der Regeln
Die zwei Regeln wurden nicht mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit formuliert. Ich habe nie behauptet, daß diese Regeln für LARP notwendig sind. Sie sind aber für LARP hinreichend. Diese Begriffe sind hier im Sinne mathematischen Jargons gemeint: A ist hinreichend für B, wenn aus A folgt, daß B gilt. A ist notwendig für B, wenn aus B folgt, daß A gilt.
Die zwei Regeln sind hinreichend für LARP, aber nicht notwendig. Also: wenn es die zwei Regeln benutzt, kann ich es LARP nennen. Aber nicht: wenn es LARP ist, muß es die zwei Regeln benutzen.
Der Satz "Alles, was X braucht" definiert eine Mindestanforderung, keinen Allgemeinheitsanspruch. Wenn ich sage "Alles, was der Mensch zum Leben braucht, ist eine Schale Reis am Tag und ein Dach aus Palmenblättern" schließt das nicht aus, daß ich mich mit weltlichem Tand (wie etwa einer digitalen Spiegelreflexkamera) belaste. Welcher Weg zur Erleuchtung führt, ist eine andere Frage.
Geltungsbereich und Verträglichkeit mit anderen Regeln
Die zwei Regeln gelten natürlich nicht auf jeder Veranstaltung. Sie stellen eine eigene Regelphilosophie dar, die explizit von der Veranstalterin gewünscht sein muß. Sie sind nicht als universelles Prinzip gedacht, das auf mystische Weise allen anderen Regelwerken unterliegt. Auf Veranstaltungen, auf denen sie nicht ausgewiesenermaßen gelten, können sie bestenfalls als Richtschur für Bereiche dienen, die von den Regeln nicht klar definiert werden, oder als Ersatzlösung für unklare Situationen. Für einfache Charakterkonzepte mag es im Einzelfall sogar funktionieren, das geltende Regelwerk zu ignorieren und nach den zwei Regeln zu spielen, ohne dabei anzuecken oder auch nur aufzufallen. Ich empfehle das ausdrücklich nicht. Man muß sich im Klaren sein, daß man mit den formulierten Regeln in Konflikt geraten kann, wenn man trotz anderer geltender Regeln nach den zwei Regeln spielt.
Manche Leute vertreten die Auffassung, die zwei Regeln ließen sich mit klassischen Punkteregelwerken verbinden. Ich habe gewisse Bauchschmerzen mit dieser Auffassung. Die meisten mir bekannten Regelwerke enthalten Fertigkeiten, die bestimmte Reaktionen auf bestimmte Aktionen vorschreiben. Sie definieren einen Anspruch gegenüber der Mitspielerin, daß diese auf eine bestimmte Weise auf die eigene Aktion zu reagieren hat. Wer etwa regelkonform einen Windstoß nach DragonSys zaubert, hat einen Anspruch darauf, daß ihr Ziel zurückweicht (modulo Immuntität etc., die aber wiederum durch Regeln genau festgelegt ist). Das widerspricht explizit Regel 1 und implizit auch Regel 2. Die zwei Regeln legen fest, daß ein solcher Anspruch gerade eben nicht besteht. Kombiniert man nun beide Regelparadigmen, so legt man gleichzeitig bestimmte Handlungsweisen fest und sagt, daß keine bestimmte Handlungsweise erforderlich ist. Das empfinde ich als Widerspruch, da sich die zentrale Motivation beider Paradigmen (klare Ursache-Wirkung-Beziehung im Interesse einer Spielbalance einerseits und größtmöglich Flexibilität andererseits) diametral entgegenstehen. Natürlich könnte man die klassische Fertigkeitenregel als Empfehlung aussprechen: handle nach den zwei Regeln und wenn Dir nicht klar ist, wie Du reagieren sollst, folge im Zweifel (z.B.) DragonSys. Aber ich fürchte, daß das zu Verwirrung führen würde und letztlich vor Allem die Nachteile beider Systeme vereinen würde.
Ignorieren als Reaktion
Gelegentlich wird darüber debattiert, ob es im Sinne der zwei Regeln eine "plausible Reaktion" sei, gar nicht auf ein Anspiel zu reagieren.
Ein Teil der Diskutandinnen pocht auf den Wortlaut der Regel 1 und ist der Meinung, das Ziel müsse irgendwas tun. Der andere Teil beruft sich auf Regel 2, führt an, die Handelnde dürfe nichts bestimmtes erwarten und keine Reaktion sei eben auch eine Reaktion. Es sei manchmal sogar eine eher realistische Reaktion, wenn die Wirkung des Anspiels für das Ziel "eigentlich" nicht wahrzunehmen sei (z.B. schnell fliegende Projektile bei Feuerwaffen).
Ich würde hier ein Beispiel einer Spielblockade sehen und der Position "keine Reaktion ist auch eine" eher nicht zustimmen.
In meiner DKWDDK-Howto habe ich mal geschrieben:
Vergiß passive Fertigkeiten Unverwundbarkeit ist sehr leicht "darzustellen": reagiere einfach nicht auf Treffer. Das ist aber für die Handelnde wenig befriedigend. Daher sollten Fertigkeiten und Effekte, die darauf basieren, daß nicht gespielt wird, im DKWDDK tunlichst unterbleiben. Wenn es unbedingt sein muß, sollte eine abgeschwächte Ersatzhandlung für den Effekt ausgespielt werden oder das "Widerstehen" irgendwie aktiv deutlich gemacht werden ("Gedankentricks wirken bei mir nicht, nur Geld.").
Dasselbe Prinzip würde ich hier auch anwenden. Natürlich kann es "plausibel" sein, daß ein Charakter etwas nicht bemerkt und aus diesem oder einem anderen Grund eben nicht reagiert. Das ist aber eine Lösung die die Handelnde verwirrt, wenn sie nicht erkennt, daß die Nicht-Reaktion bewußt erfolgte, frustriert, weil sie nichts zurück bekommt und die kein weiteres Spiel generiert.
Regel 1 ist dazu gedacht, einen gewissen Horror Vacui auszudrücken. Nicht zu spielen - eben die Blockade - ist stets die schlechteste Option. Besser ist es, das Spiel der Anderen anzunehmen, auf Aktionen zu reagieren, das Spiel am Laufen zu halten. Mitspielerinnen werden die Aktion annehmen und damit irgendwas machen. Vielleicht nicht das, was man erwartet hat, aber etwas, mit dem man weiterspielen kann.
Eigentlich haben hier ja beide Kontrahendinnen unrecht. Die eine, weil sie nicht wahrnehmbar reagiert, die andere, weil sie sich über die Nicht-Reaktion beschwert, statt nach vorne zu blicken und was Neues aus der Situation zu machen.
Die eigentliche Antwort auf die Frage, ob man beim Spiel nach den Zwei Regeln erwarten darf, nicht ignoriert zu werden, ist "Mu".
Erwartungen
Es gibt bei den zwei Regeln sicherlich generell ein gewisses Henne-Ei-Problem. "Was darf sie erwarten, was ich erwarte, wie sie zu reagieren hat?" Natürlich muß auch hier wieder Douglas Adams zitiert werden: "People are a problem". Sicherlich ist es nicht immer möglich, die eigenen Erwartungen zu ignorieren. Wichtig ist es da glaube ich, auch im Fall von "Pathologien", also selbst wenn Erwartungen auseinanderlaufen, nicht zu lange bei den Störungen zu verweilen.
Die Zwei Regeln sollen eigentlich genau solche Streitereien transzendieren und wer die Zwei Regeln verwendet, um seine "Du mußt aber..."-Thesen zu begründen, hat den Pfad der Erleuchtung verlassen.
Idealismus
Die zwei Regeln werden häufig als idealistische Vision beschrieben, die in der Praxis nicht umzusetzen ist. In der Tat waren sie natürlich ursprünglich als provokantes Gedankenspiel gedacht und ich selbst bin erst nicht davon ausgegangen, daß jemand sie tatsächlich als Spielregel verwendet. Mittlerweile haben die zwei Regeln allerdings zumindest in gewissen Bereichen durchaus den Praxistest bestanden. Die mit ca. 800 Teilnehmerinnen bisher größte Veranstaltung, die die zwei Regeln als Spielregel verwendet hat, war zwar in gewissem Sinne ein "Ambientecon", jedoch sind die Regeln durchaus auch schon auf Abenteuercons erfolgreich verwendet worden.
Klarheit
Verfechterinnen detaillierter Regelwerke schätzen diese, da sie der Spielwelt vermeintlich eine feste Ursache-Wirkung verleihen. Reaktionen sollen berechenbar sein. "Berechenbarkeit" ist meiner Erfahrung nach keine zwingende Voraussetzung für ein Spiel. Unerwartete Ergebnisse von Spielhandlungen können sogar gerade den Reiz des Spiels ausmachen, wenn man bereit ist, sich auf Unwägbarkeiten einzulassen. Ich habe im Gegenteil die Erfahrung gemacht, daß Frust häufig eher genau daraus entsteht, daß der Anspruch der "Berechenbarkeit" an eine kollektive Fiktion gestellt wird.
Nicht selten werden in den Larp-Foren theoretische Beispiele konstruiert, was denn alles schiefgehen könne, wenn die Regeln nicht ausreichend klar seien. Zumeist wird, wenn man diese Beispiele genauer analysiert, aber eine der Regeln verletzt. Meist die zweite Regel: eine Spielerin erwartet irgendeine bestimmte Reaktion auf ihre Spielhandlung. Wenn alle sich wirklich auf beide Regeln einlassen, sollte eigentlich alles gut werden. Es mag sein, dass das nicht immer klappt, es ist aber billig, Regeln für gescheitert zu erklären, weil Leute sich nicht daran halten. Nach der Prämisse klappt DragonSys auch nicht, weil z.B. "Furcht" meiner Erfahrung nach nicht selten als komponentenloser Distanzzauber verwendet wird. Auch konkreter formulierte Regeln scheitern, weil die Leute die Regeln nicht lesen, oder die Regeln unterschiedlich interpretieren, oder versuchen, die Regeln zu biegen, oder einfach schummeln. Weil sie zu unterschiedliche Erwartungen an Regeln haben und im Zweifelsfall nicht die Selbstdisziplin haben, sich mit etwas abzufinden, was sie scheiße finden, nur weil es regelkonform ist, oder weil sie dann unterstellen, daß die andere geschummelt hat oder der Streit ohnehin nicht darum geht, ob die Regel eingehalten wurde, sondern, ob die IT-Wahrnehmung, die zum regelkonformen Spiel geführt hat, zutreffend war.
Probleme ergeben sich auch bei formalisierten Regeln. Vielleicht neigen diese sogar mehr zu bestimmten Schwächen, da sie den Spielerinnen eben suggerieren, dass es eine formal korrekte Sichtweise gibt und ihr jeweiliger eigener Standpunkt nachprüfbar der Richtige sein muß. Die zwei Regeln nötigen die Spielerin, die sich tatsächlich auf sie einlässt, prinzipbedingt zu der Erkenntnis, dass der eigene Standpunkt nicht absolut ist. Statt zu versuchen, die Berechenbarkeit der Spielwelt durch immer komplexere Regelsysteme zu erzwingen, fassen die zwei Regeln den Stier bei den Hörnern und werfen gleich die gesamte Berechenbarkeit über den Haufen. Das soll nicht heißen, daß die Spielwelt inkonsistent und beliebig wird, aber man sollte sich bei jeder Aktion oder Reaktion überlegen, wie sie in eine konsistente Spielwelt paßt, statt zu hoffen, daß die Spielregel automatisch die Konsistenz der fiktiven Spielwelt bewirkt.
Wirkungsweise und Voraussetzungen
Wie aber können die zwei Regeln nun konkret funktionieren? Ich halte es für den wesentlichen Punkt der zwei Regeln, daß sie im Gegensatz zu den meisten konkreteren Regelwerken dazu anhalten, möglichst keine konkreten Erwartungen an seine Mitspielerinnen oder Ereignisse zu stellen. Wer sich an die zwei Regeln hält, die muß mit Gelassenheit seiner Mitspielerin alle Freiheiten lassen aber auch auf deren Spiel eingehen und ihr Ego zurückstellen. Die Spielerinnen sollten offen für unerwartete Wendungen sein und diese nicht als Bruch der IT-Logik wahrnehmen, sondern als Chance, dem Spiel eine andere Wendung zu geben.
Wer die üblichen, aus der Tradition des Pen-and-Paper-Rollenspiel-in-Kostüm erwachsenen, LARP-Regelwerke gewohnt ist, sieht in den zwei Regeln meist zunächst deren Wirkungsweise auf die Reaktionen und befürchtet Probleme mit Konsistenz der Spielwelt und Fairness des Spiels, wenn jede reagieren kann, wie sie will. Ich halte aber die Wirkung auf Aktionen auch für nicht zu vernachlässigen. Diese Wirkung ist allerdings eher eine psychologische: weiß die Agierende, daß ihre Aktion keine bestimmte Reaktion erzwingen kann, so wird sie ihr Spielangebot so gestalten, daß sie damit rechnen kann, daß ihre Mitspielerin es annehmen wird oder daß zumindest mehrere Reaktionen möglich bleiben, ohne die IT-Logik zu stören.
Ein Problem daran ist, daß das Übung und ein bewußtes Einlassen erfordert. Wir sind aufgrund des dunklen Erbes des Papierrollenspiels immer noch viel zu sehr geneigt, das Spiel in "objektiv richtige" Kategorien einzusortieren. Aktion und Reaktion, Fertigkeit gegen Rettungswurf, Schadenswert gegen Rüstschutz, Ursache und Wirkung. Letztlich sind aber diese Kategorien meist gar nicht mal so "objektiv" wie wir meinen, sondern auch nur die eigene Interpretation, denn das Ego stört auch: Fall um, Du bist tot. Nä, bin ich nicht.
Und wenn die eigene Interpretation dessen, was zu geschehen hat, mit der einer Anderen kollidiert, erfordert es einigen guten Willen, Flexibilität und oft auch bewußte Entscheidungen auf der Meta-Ebene um so zu spielen, daß eben keine Blockaden entstehen.
Wir müssen uns auf diese offene Spielweise einlassen und es kommt - wenn wir kleinlich sind - letztlich wohl ein anderes Spiel dabei herum, als mit klassischen Regeln. Statt in der Tradition des PnP-Rollenspiels steht es vielleicht eher in der Tradition des ursprünglichen Kinderspiels. "Räuber und Gendarm" statt "Dungeons and Dragons".
Mut zur Freiheit. HakunaMatata.
RalfHüls, 15.09.2009, 19.07.2012