Religion für Larp entwickeln & spielen
Die Realität ist komplex. Sie war es schon immer und wird es immer sein, denn Menschen waren und sind Menschen. Larp muss diese Komplexität nicht abbilden, aber ich persönlich finde, es sollte damit arbeiten und ihr Raum geben. Aus meiner Sicht sorgt das einfach für gute Geschichten.
Dabei ist es egal, ob die Menschen nun biologisch Menschen sind, oder Elben, Echsenwesen oder Edalphi: Wenn die Welt spielbar bleiben soll, muss die Bevölkerung sich menschlich verhalten. Werden ihre Akteure spielerisch von Menschen dargestellt (wie es im Larp irgendwie unvermeidbar ist), werden sie sich abseits einiger simpler Topoi sogar immer menschlich verhalten - ob man das als Designer möchte oder nicht.
Und ein wesentlicher Punkt dieser schon immer vorhandenen menschlichen Komplexität sind Religionen.
Ich finde es einfach schade, wenn mit dem ignorieren von Religionsspiel eine ganze Komplexitätsebene links liegen gelassen wird. Deswegen möchte ich hier ein paar Grundgedanken präsentieren, wie Religion im Larp im Hintergrund entwickelt und im Spiel umgesetzt werden kann. Gerade vormoderne Settings, wie es die meisten Mittelalter-Fantasy-Settings sind aus meiner Sicht ohne Religion nicht glaubwürdig. Eine hierarchische, agrarisch geprägte Gesellschaft, die keine (imaginierte) Instanz hervorbringt, die spirituell legitimiert und bei Unwetter und Naturkatastrophen angerufen werden kann, erscheint mir schlicht unwahrscheinlich.
Egal, ob es ihn nun gibt oder nicht: in ihrem Leben vom Wetter abhängige Bauern erfinden früher oder später eine Art Wettergott.
Die Grundlagen
Am Anfang steht eine kurze Reflexion: Religion ist ein gemeinschaftliches spirituelles, handlungsleitendes, handlungslegitimierendes und welterklärendes Glaubenssystem. Und es ist mir wichtig, dass beim Denken über Religion im Larp Spiel und Hintergrund zusammen gedacht werden, denn: “Larp is’ auf’m Con.” Am einfachsten geht es sich bewusst zu machen, was Religion nicht ist. Was beim Nachdenken über Larp-Religion optional ist, wo es mehr Freiheiten gibt, als man vielleicht zuerst intuitiv glaubt.
Religion ist nicht gleich Gott oder Pantheon. Religionen werden gerne nach ihren Göttern unterteilt, aber Religion ist nicht der jeweilige Gott, sondern ein menschengemachtes Glaubenssystem um Götter herum. Mehrere Götter in einer Religion haben viele noch auf dem Schirm, aber es geht theoretisch so viel mehr: mehrere Religionen um denselben Gott, Religionen ohne Götter, Götter ohne Religionen, sogar Religionen, die sich von ihren Göttern entfernt oder getrennt haben, oder umgekehrt. Und fangen wir besser gar nicht erst mit Konzepten wie Heiligen und Heroen an.
Religion ist nicht gleich Kirche. Kirche ist eine aus Menschen gebildete Struktur und Instanz, die sich durch eine Religion legitimiert und sie gleichzeitig formt. Eine Religion kann mehrere Kirchen beinhalten und rein theoretisch kann eine Kirche mehrere Religionen abdecken - auch wenn es dann definitiv eine Tendenz zur Zusammenfassung gibt. Wenn wir im Larp eine Religion designen oder spielen wollen, sind Kirche und Hierarchie erstmal nebensächlich. Wer bei “Wir bauen eine Larp-Religion” erstmal mit dem Festlegen einer Kirchenhierarchie beginnt, hat in meinen Augen schon verloren.
Religion ist nicht gleich Philosophie, Physik oder Politik. Sicher: alle drei können in Religion vorkommen und werden in stark religiösen Gesellschaften umgekehrt maßgeblich durch Religion geprägt. Aber auch sie sollten beim Design einer Larp-Religion erstmal zurückgestellt werden.
Religion ist auch nicht gleich Glaube. Glaube ist etwas Individuelles. Menschen können sehr wohl religiös sein, ohne persönlich zu glauben. Und viele Menschen haben einen persönlichen Glauben ohne sich religiös zuzuordnen. Dann gibt es immer auch eine weite Varianz von Schwerpunkten im persönlichen Glauben, schon durch verschiedene Biografien und Stände. Und genau das alles sollte Religion im Larp IT auch zulassen. Sich hier zu früh zu sehr festzulegen hilft nicht.
Religion ist nicht Hintergrund-Wahrheit oder tatsächliches Götter-Geschenk. Nicht Götter oder Meta-Physik formen Religion, sondern Menschen. Die historische Realität zeigt, dass Menschen Religion auch ganz ohne real existierende Götter hinkriegen (auch real Gläubige müssen da meiner Meinung nach zugeben, dass es recht viele Fälle in der Geschichte gab, wo trotz des Wirkens des Gottes, an den man selbst glaubt, komplette andere Religionen relativ erfolgreich aufgebaut wurden). Eine Religion postuliert Wahrheit und erschafft sie zum Teil dadurch, dass sie gelebt wird - aber eine Religion, die sich in einem Hintergrund wissentlich volsltändig auf tatsächliche Welt-Wahrheiten stützt, ist aus meiner Sicht so unwahrscheinlich, dass ich es für schlechtes Design halte. Mag sein, dass es in deiner Welt Götter gibt, die direkt zu den Menschen sprechen. Aber dass Menschen dabei wirklich das verstehen, was gemeint ist, und dieses dann auch noch unverfälscht über Generationen weitergeben? Dass sie über die wodurch Weltmechanik und Meta-Physik IT “wahren” Aspekte hinaus keine IT-”falschen” Behauptungen aufstellt? Sorry, da bin ich raus.
Damit verwandt Religionen sind nicht konsistent oder statisch. Natürlich wird das in Religionen über sich selbst behauptet. Es ist in komplexen Welten sogar ein wesentliches Schutzversprechen und eine Legitimation. Aber es stimmt halt nicht. Da Religionen nun mal menschengemacht sind, wird es immer Inkonsistenz und Veränderung geben. Versucht nicht konsistente Religionen zu designen oder konsistentes Religionsspiel zu betreiben. Arbeitet lieber an realistischer im Sinn von menschlich-fehlerhafter und fehler-überspielender Religion. Auch wenn der IT geäußerte Anspruch ein anderer sein mag.
Was ich mit dieser Reflexion sagen möchte: Religion wird erzählerisch und spielerisch erst so richtig toll, wenn kirchliche Strukturen, philosophische/physikalische/politische Einbindung, persönlicher Glaube, Übereinstimmung mit Welt-Wahrheit und Konsistenz optional sind. Sie sind Attribute einer gut designten und gespielten Religion, die praktische Rahmen geben können, aber letztlich veränderbar bleiben sollten.
Was für Spiel und Design wichtiger ist, sind aus meiner Sicht die folgenden fünf Fragen.
1. Was will / darf ich?
Bei allen Appellen für Offenheit, Mut zu Inkonsistenz und realistische Konzepte, kein Religionsspiel der Welt ist es wert sich deswegen mit Leuten zu zerstreiten oder sich Spielmöglichkeiten zu nehmen. Egal ob es um die Religion eines Einzelcharakters, einer Gruppe oder eines Hintergrundes geht: Es kann sehr gut sein, dass es durch andere gesetzte Regeln, Rahmenbedingungen oder schlicht Spielstile gibt, die mit bestimmten Elementen eines Religionskonzeptes nicht kompatibel sind.
Es ist sehr wichtig so etwas früh zu erkennen und entweder das eigene Konzept anzupassen, ruhen zu lassen oder einen anderen Spielplatz dafür zu suchen. Und wenn ich einen bestimmten Hintergrund als Spielplatz möchte, dann ist es nur klug seine Aspekte zu nutzen und mit dem zu arbeiten, was es dort bereits gibt. Wenn es in diesem Hintergrund vielleicht schon eine Religion gibt, deren bestehenden Rahmenbedingungen gut gesetzt sind, muss man oft das Rad nicht neu erfinden, sondern kann bestehende Religionskonzepte in Absprache abwandeln. Manchmal wurden bestimmte Details nur aus einem Bedürfnis nach Vollständigkeit festgeschrieben und nie wirklich tief gefüllt oder belebt. Oft kann man da in Absprache noch etwas ändern. Eine Erweiterung ist ebenfalls möglich. Reformation passiert.
Ein weiterer Aspekt ist die Frage, was eigentlich die ganz persönlichen Rahmenbedingungen, Wünsche und Vorprägungen sind. Es ist immer ein bisschen ungünstig zu viel persönliche Spiritualität in Larp-Religionen einfließen zu lassen, weil das Flexibilität aus dem Spiel nimmt. Aber wirklich kritisch wird es nur, wenn man das unbewusst und unreflektiert tut. Ich persönlich rate einfach davon ab.
Letztendlich muss man sich die Frage stellen, was man selbst möchte und wo man im Zweifel bereit ist OT Gegenwind und sogar Konflikte in Kauf zu nehmen. Ich persönlich rate dazu, die OT-Friktionen so klein wie möglich zu halten. Religion ist, wie die Eingangsreflexionen vielleicht gezeigt haben, ein komplexes Feld und nicht jedes Gegenüber hat die Energie entsprechenden Argumentationen zu folgen. Und das ist auch legitim.
2. Für wen soll die Religion sein?
Bei dieser Frage treffen sind die OT-Ebene, die IT-Hintergrund-Ebene und die IT-Con-Ebene:
- Welcher Art Spieler soll das Religionsspiel Spaß machen? Also nicht nur dir, sondern welche Mitspieler sollen wie Spielspaß aus der Religion ziehen?
- Welche Bevölkerungsteile des Hintergrundes folgen der Religion?
- Welche Charaktere soll die Religion auf Con ansprechen?
“Alle!” ist da eine valide Antwort, aber nicht die einzige. Hinter dieser Frage steht nämlich auch das Nachdenken über die Bedürfnisse dieser Zielgruppen - Denn:
- Nur, wenn die Religion OT-Bedürfnisse erfüllt, wird sie bespielt.
- Nur wenn sie Hintergrundbedürfnisse erfüllt, kann man in Plots wirklich gut mit ihr arbeiten.
- Und nur wenn sie Charakter-Bedürfnisse erfüllt, ist sie im Spiel glaubwürdig.
Selbst als Atheist muss man meiner Meinung nach zugestehen, dass Religion, Kirche und Glaube menschliche Grundbedürfnisse erfüllt. Sicher, das Bedürfnis nach Spiritualität ist individuell unterschiedlich stark, aber Gemeinschaftsgefühl, Vertrauen, Abladen von Schuld, Hoffnung auf Rettung sind davon unabhängig starke Triebfedern. Und gerade ein Atheist sollte zugestehen, dass erfolgreiche Religionen einen Alltagsmehrwert haben und man die Bedürfnisse des einfachen agrarisch tätigen Volks mitdenken muss, selbst wenn diese mit ihrem Alltag auf Con meist nicht auftreten.
Eine Religion, deren lebensweltlich-alltägliche Wurzeln im Spiel nicht durchscheinen, bleibt immer ein leeres Abziehbild.
Sei dir bewusst, dass Menschen Religionen formen und an ihre Bedürfnisse anpassen. Eine größere Religion ohne entsprechende Mechanismen ist einfach unrealistisch und eben “leer”. Frage dich nicht, was es für die Gläubigen bedeutet diesen oder jenen Gott zu folgen oder welchen Gott die wählen würden. Frage dich, wie Gläubige die Religion, in die sie hineingeboren wurden, (undbewusst) an sich anpassen würden. So verbinden sich Charakter-Bedürfnisse und Hintergrund-Bedürfnisse oft wie von selbst. Welche dieser Elemente dann im Spiel vom Charakter tatsächlich gelebt werden und welche nur erwähnt, das sollte anhand der OT-Bedürfnisse entscheiden werden.
Eine Religion kann über verschiedene Strömungen leicht mehrere Zielgruppen abdecken. Die religiöse Praxis der Bauern und der Priesterkaste kann innerhalb derselben Religion und in der Verehrung desselben Gottes sehr unterschiedlich sein. Sogar, ohne dass es den Charakteren IT bewusst ist. Sowas muss auch nicht festgeschrieben werden. Nur sollte es reflektiert passieren. Es kann sich auch im Spiel entwickeln. Denn Larp is’ auf’m Con.
3. Wie zeigt sich die Religion im Spiel?
Wenn klar ist, für wen die Religion ist und welche Grundbedürfnisse abgedeckt werden, folgt die Frage, mit welchen Mitteln das passiert. Gemeinschaftsgefühl ist immer ein Thema und ich möchte direkt festhalten, dass Gemeinschaft am einfachsten durch gemeinschaftliche Handlungen und besonders deren Wiederholung erzeugt werden. Gerade, wenn man für die Wirkung oft nur die begrenzte Zeit eines Cons zur Verfügung hat.
Auf Con ist die erwartbare Vorbereitung anderer Spieler nicht besonders groß. Deshalb ist das aus meiner Sicht Wichtigste beim Erschaffen und Bespielen einer Larp-Religion ein Set von erkennbaren Spiel-Elementen, die (gegenseitige) Erkennbarkeit und Gemeinschaft gewährleisten und einfach vervielfältig- und einübbar sind. Und dann wirklich durchgezogen werden. Dafür braucht es zuerst ein paar Grundfestlegungen zum praktischen Stil einer Religionsausübung. In den meisten Larpreligionen werden diese implizit getroffen, aber es ist wertvoll sie zu reflektieren und vielleicht neue Ansätze zu finden, die trotzdem praktikabel sind. Es sind ganz körperliche Fragen:
- Ist der Stil der Religion eher Heiligkeit im Verharren oder in Bewegung?
- Ist es ein Stil, bei dem viele auf einen (oder wenige) sehen, oder alle aufeinander?
- Wird Heil eher in der Einsamkeit gesucht oder in der Gesellschaft?
- Richtet sich die Praxis auf etwas Abstraktes oder etwas Konkretes?
- Ist der eigene Körper Freund oder Feind auf diesem Weg?
- Ist das spirituelle Ziel eher in der Natur oder der Zivilisation, wie viel Ordnung verträgt die Spiritualität?
Die Antworten müssen nicht immer ein Extrem sein, aber je mehr Eindeutigkeiten es gibt, desto erkennbarer wird die Religion an sich im Spiel. Wenn man sich über solche allgemeine Stilfragen klar, ist und sie festgehalten hat, dann können religiöse Handlungen ohne Stilbruch variieren oder improvisiert werden. Und in diesem Sinne sollten dann natürlich auch die Minimal-Elemente gestaltet werden.
Ein klassisches Minimal-Element ist ein Glaubenssymbol, das einfach genug ist, um auch in verschieden begabten Umsetzungen auf verschiedenen Medien erkennbar zu bleiben. Es sollte sowohl als vergoldeter Anhänger an der Ritterkette, als auch nachts eilig auf die feindliche Palisade gepinselt wirken. Natürlich haben unterschiedliche Stile etwas andere Ansprüche an Symbol und Medium: Das Zeichen einer wilden Naturreligion, das sich nicht mit Schlamm oder Blut und Fingern auf die Haut malen lässt, wäre zum Beispiel aus meiner Sicht eher weniger gut geeignet. So schön verästelte Baumbilder auch aussehen.
Ein Minimal-Element, das intuitiv meist direkt festgelegt wird, ist der Name der heiligen Entitäten und der Religion/Kirche. Und meistens auch der eines Widersachers. Wirklich interessant wird es aber, wenn zugleich Möglichkeiten für Anrufungen und Ausrufe mitgedacht werden. Ausrufe der Dankbarkeit, des Erschreckens und des Fluchens. Denn deren verbindung mit heiligen oder unheiligen Entitäten ist ein ganz wesentliches Grundbedürfnis.
Weitere sehr wichtige Minimal-Elemente sind Gruß und Geste, die oft auch als kleinster gemeinsamer Nenner von Gottesdiensten, Liturgien und Meditationen fungieren. Auch eine kurz eingenommene Haltung kann eine Geste sein und auch ein bewusstes Stillsein kann ein Gruß sein. Hier ist das Feld weiter, als es scheint. Wichtig ist aber, sich nicht in Details zu verlieren. Gruß und Geste müssen realistischerweise auch geistesabwesend hingerotzt werden könne.
Neben diesen greifbaren Elementen gibt es noch Verhaltensweisen, die als Minimal-Elemente bedacht werden sollten: Eigentlich jeder Religion stehen ein paar Taboos/Sünden/Verbote gut an. Und genauso ein paar Situationen, die als besonders heilig oder gut angesehen werden. Hierbei Dinge zu nehmen, die auf Con nicht vorkommen ist witzlos. Im Idealfall ist eine heilige Situation sogar von außen wahrnehmbarer (aber in der Praxis optionale) Teil der Tageseinteilung. Morgenandacht, Abendmeditationen, Stundengebet, Mittags einen Baum/Untergebenen/Reliquienbehälter umarmen: irgendwas, es müssen nicht ausformuliert oder genau reglementiert sein. Hauptsache, es passiert etwas, das Gemeinschaft stiftet und von anderen wahrgenommen werden kann.
Es gilt: lieber mehr Anwendungsmöglichkeiten auf Con, als mehr Komplexität oder Genauigkeit. Denn Larp is’ auf’m Con.
4. Mit welchen Strukturen soll die Religion spielen?
Erst an dieser Stelle kommt das Thema Hierarchie mal auf - und das auch anders, als oft gehandhabt. Ja, es sollten hier auch ein paar Namen und Ämter gesetzt werden, aber das Ziel sollte sein, einen Stil und Eckpunkte zu definieren, ohne im Spiel letztlich irrelevante Details festzuschreiben.
Zu solchen Fragen von Stil und Eckpunkten zählt die Frage, ob die Religion Konzepte wie Orthodoxie/Dogma überhaupt hat und wie sie legitimiert werden.
- Welche Strukturen und Legitimationen gibt es im Umgang mit innerreligiöser Opposition oder abweichenden Strömungen?
- Gibt es eine Amts- oder Zentralinstanz, eine Kirche, was ist deren Anspruch und wie weit trägt dieser Anspruch in der Praxis?
- Gibt es eine heilige Schrift?
- Gibt es einen Klerus?
- Wie steht die Religion zu anderen Religionen?
Und immer wieder: Wie wird das jeweils legitimiert? “Es steht in unserer heiligen Schrift.” ist da auch ohne ein Ausformulieren der jeweiligen Textstellen erstmal ausreichend. Dafür muss die Heilige Schrift noch nicht mal ausformuliert sein.
Zu den Strukturfragen gehört auch das Verhältnis mit Magie, besonders die Beschaffenheit einer Verzahnung von Religion mit magischer und weltlicher Macht. Eine davon getrennte Frage ist dann die Einbettung der Religionselemente in die Welt-Physik oder ein Regelwerk - falls solche festgelegt sind. Es ist absolut möglich und aus meiner Sicht sogar glaubwürdig hier mit Widersprüchen zu arbeiten, die der Glaube überspielt: Elemente einer Religion können in der Welt-Physik ganz klar magisch erklärt werden, auch dass es Metaphysisch gar keine entsprechende Gottheit gibt. Die Religion kann ihre Wunder aber trotzdem als “nichtmagisch” und dezidiert göttlich wahrnehmen und deswegen zum Beispiel Magie-Wirkende von geistlichen Handlungen ausschließen. Zugleich könnte sie weltliche Herrschaft nur durch Magie-Wirkende akzeptiert. Widersprüche sind toll, wenn sie allgemein genug festgelegt wurden, um im Spiel darstellbar und anwendbar zu sein.
Damit sind wieder bei: Larp is’ auf’m Con. Die vielleicht wichtigste Festlegung in Bezug auf Strukturen einer Religion ist, was davon wie wahrscheinlich im Spiel vorkommen soll und was vielleicht auch gar nicht.
- Bis zu welcher Stufe sollen Würdenträger aktiv auftreten?
- Welche Instanzen werden aus Darstellungsgründen als nur in echten Ausnahmen bespielbar festgelegt?
- Und dann die Überlegung: Brauchen wir diese spezielle Festlegung dann überhaupt für unser Spiel?
Mit Mut zu Lücke, Improvisation und vielleicht sogar widersprüchlichen IT-Informationen, verhindert man so Spiel und Spielentwicklungen von vornherein abzuwürgen.
5. Wie soll der OT-Umgang mit Varianz sein?
Diese von mir bevorzugte Offenheit braucht die Antwort auf eine weitere Frage: Wie soll mit aus welchen Gründen auch immer (IT genauso wie OT) entstandenen Abweichungen innerhalb des Religionsspiel umgehen?
Das schöne ist: Wenn ihr euch an meine Ideen bei den vorherigen Punkten gehalten habt, stellt sich die Frage nicht mit der sonst schnell einsetzenden Intensität. Denn wenn es keine Weltwahrheit und nur grob umrissene Kirchen-Konzepte gibt, dann ist in diesem System immer Platz für mehr oder weniger verbreitete Nebenströmungen, Aberrationen, Häresien oder Konfessionen. Immer vorausgesetzt, die “abweichenden Spieler” wissen überhaupt, dass sie gerade abweichen.
Die Frage bei Varianz ist deshalb nicht, wie man sie IT ein- oder unterbindet, sondern aus welchen Gründen es diese Varianz gibt, was die Ziele hinter ihr sind und wie man sich OT absprechen kann - oder eine unabsichtlich entstandene Varianz sogar auflösen kann. Sich dazu ein paar Dinge zu notieren, um im Zweifel ohne viel Aufwand nachzufragen, spart einigen Stress.
Es kann nämlich gut sein, dass Varianz gar nicht absichtlich entsteht, sondern weil neue Spieler auf Basis des “Leitbilds” etwas andere Vorstellungen entwickelt haben - oder die Religion in einen anderen Teilhintergrund übertragen haben - wobei unbewusste Anpassungen schnell passieren. Erst wenn ihr geklärt habt, welche Varianz absichtlich und welche unabsichtlich entstand, könnt ihr mit den entsprechenden Spielern darüber reden, wie ihr diese Varianzen OT und IT behandeln möchtet.
Mein Rat wäre, das Konzept der Religion mit den Antworten auf die von mir gestellten Fragen zugänglich, gerne auch öffentlich zu halten. So kann jeder in entsprechenden Situationen auf dieses “Leitbild” verweisen und dann umso beruhigter Feinheiten diskutieren. Diese Feinheiten können natürlich auch irgendwo ausformuliert oder niedergelegt sein, ich empfehle aber diese im Zweifel nicht einzufordern, sondern aus ihnen Spiel zu generieren. Es gibt dafür eine Frage, die man dabei zusammen reflektieren sollte: Wie soll die Varianz im Spiel von ihren IT-Vertretern selbst IT eingeordnet werden? Da gibt es wieder viele Möglichkeiten des IT-Selbstbildes:
- Sie sehen sich als die wahren Gläubigen und die Hauptströmung als falsch und überkommen. Sie wollen sich von der Hauptströmung trotz geteilter Grundlagen absondern.
- Sie sehen ihren Weg als den Weg zurück zu den Ursprüngen der Hauptströmung, die verweichlicht/verdorben/häretisch unterwandert ist. Sie wollen die Hauptströmung erneuern/reformieren.
- Sie sehen sich als missverstandener legitimer Teil der Hauptströmung. Sie wollen akzeptierter Teil der Hauptströmung sein.
- Sie nehmen sich gar nicht als Nebenströmung wahr und halten ihren Weg für die Hauptströmung. Sie verstehen Kritik der Hauptströmung nicht. - Was der im spielerisch schwierigste Weg ist, denn er funktioniert nur dann, wenn die Hauptströmung bekannt und etabliert ist.
Fazit: Bewusst offen gehaltene Hintergründe sind einladende und stabile Hintergründe
Habe ich schon erwähnt, dass Larp auf’m Con ist?
Auf Cons, gerade auf Fantasy-Cons müssen wir uns soviel vorstellen, so viel ausblenden, soviel Wohlwollen unseren Mitspielern, den NSCs und der Orga entgegenbringen - ja auch bei DKWDDK-Histo-Cons -, dass ich persönlich es sehr zu schätzen weiß, wenn mein Wohlwollen, meine Vorstellungskraft und meine Suspension of Disbelief nicht unnötig eingefordert werden. Ich weiß es zu schätzen, wenn mir eine Religion begegnet, die ich schnell einordnen und die ich vielleicht sogar “fühlen” kann. Die sich vielleicht sogar “lebendig” anfühlt.
Ein Teil dieses “Fühlens” sind die oben durchgegangen Punkte:
- Wenn ich das Gefühl habe, dass in Konzeption und Spiel dieser Religion auf Grenzen Rücksicht genommen wird,
- Wenn ich das Gefühl habe, dass ich und mein Charakter in diese Religion passen und dort etwas finden, das wir gebrauchen können,
- Wenn ich das Gefühl habe, dass die Grundlagen eindeutig und schnell erlernbar sind,
- Wenn mich die Strukturen und Hintergründe nicht abschrecken,
vUnd wenn ich das Gefühl habe, dass ich mit eigenen Ideen nicht direkt einen Lore-Krieg heraufbeschwöre, dann fühle ich mich willkommen.
Gerade, wenn das Konzept der Religion mir nicht unterschwellig vermittelt, dass Nuancen meines persönlichen Spiels als potenzielle Gefahr für die Konsistenz des Hintergrunds gesehen werden können.
Die Steifheit und Verbohrtheit und der Dogmatismus, die man bei realen Religionen oft erlebt, kommt ja nicht von ungefähr. Sie entstehen gerade, weil sich Religion, Glaube und Kirche ständig ändern. Sie sind der mehr oder weniger erfolgreiche, aber immer im Wesen verzweifelte Versuch, etwas aufzuhalten, was sich nur mit äußerster Mühe aufhalten lässt. Aber sie sind dabei immer umgeben von Pragmatismus und Varianz.
Dieser ganze Ansatz beschwört eine wichtige Frage geradezu herauf: Aber wenn man Religionen so entwickelt und spielt, kommt man dabei nicht immer wieder bei mehr oder weniger demselben raus? Sind solche Religionen in vielen Aspekten dann nicht austauschbar?
Wer diese Frage stellt, ist auf einer ganz heißen Spur. Wer sich Realreligionen mit einem solchen systemischen Blick ansieht, kann dasselbe auch über Realreligionen sagen. Letztlich funktionieren sie alle ähnlich, denn sie werden von Menschen für Menschen gemacht. Aber diese grundlegende Ähnlichkeit fördert eben auch Abgrenzungsreflexe und hat noch nie Drama verhindert. Im Gegenteil.
Der ganze Trick an der Sache: Ihr sollt als OT-Personen, die Konzepte entwickeln und spielen, all diese Punkte reflektieren. Das heißt nicht, dass das eure Charaktere auch tun oder auch nur können sollen. Denn erst dann ist nicht nur eure Spielreligion, sondern seid auch ihr als Spieler flexibel genug, um das volle Potenzial von Religionsspiel mit seinen wunderschönen stillen Momenten, dem tiefen Charakterspiel, dem semi-OT Wärmegefühl von gemeinschaftlichen Ritualen und dem schier unendlichen Drama- und Konfliktpotenzial ohne OT-Ärger auszuschöpfen.
Das ist das, was ich mir für uns alle wünsche. Habt selbst Spaß mit Religionsspiel und generiert Spielspaß für andere mit eurer IT-Religion.
--- SebastianS 25.08.2023 auf Basis des Vortrags auf der Online-Konferenz Larp:werker 2021