Tirade: "Macht doch Reenactment!"
Ach bitte! Fällt Euch nicht mal ein etwas originellerer Spruch ein?
Mittlerweile ist diese Floskel in den LarpForen zum absoluten Totschlagargument geworden. Schon früher tauchte alle drei Tage irgendein selbsternannter Fantasy-Verfechter auf, der sich nicht entblödet hat, die Fragestellung nach historischer Anlehnung, "realistischen" Szenarien oder auch nur historischen Vorlagen für Ausrüstung im LARP auf diese griffige aber völlig irreführende Formel zu reduzieren.
Mittlerweile taucht es aber auch selbst dann regelmäßig auf, wenn die Debatte gar nicht mal um historische Anlehnung geht. Selbst wenn eingefleischte Fantasy-Spieler irgendeinen Anspruch an Qualität von Ausrüstung stellen, sich FantasyRealismus oder irgendeine Stimmigkeit von Darstellung wünschen oder auch nur irgendein Geschmacksurteil über gezeigte Fotos oder Konzepte fällen, wird ihnen empfohlen, es sei wohl "Reenactment" das bessere Hobby für sie. Manche Leute scheinen fast zu glauben, wer zuerst "Reenactment" sage, habe eine Forumsdebatte automatisch gewonnen. Das nimmt Formen an, die an Godwins Gesetz erinnern. Oft gewinnt man den Eindruck, daß da einfach auf das nächstbeste Feindbild eingedroschen wird, nach dem Motto "Wer anderleuts Kostüme verbesserungsbedürftig findet muß so ein bösartiger Mittelalterlarper sein!"
Dabei ist selbst wenn es um historische Anlehnung geht, dieses "Argument" nicht stichhaltig. Reenactment ist nicht dasselbe, wie "LARP ohne Fantasy", schon gar nicht dasselbe, wie "LARP mit wenig Fantasy".
Ich selbst habe großen Spaß an LARP in historischen oder pseudohistorischen Szenarien, und Szenarien, mit dezenteren Fantasy-Elementen aber zum Reenactment würden mich keine zehn Pferde bekommen. Die Zielrichtung des Reenactment ist eine völlig andere. Beim LARP, auch beim historischen LARP, wird eine Rolle gespielt und es werden Abenteuer erlebt. Beim Reenactment steht zum größten Teil nur die Ausrüstung im Focus der Teilnehmer. Reenactment ist kein Rollenspiel. Reenactment kennt kein (oder nur wenig) "In-Time", keinen Plot, keine Charakterentwicklung. Viele Reenactmentgruppen lehnen sogar die Darstellung einer Figur oder Persona vollständig ab, da es dem modernen Menschen nicht möglich ist, sich in eine historische Weltsicht einzudenken. Vgl. ReenactmentErläuterung. Wenn jetzt also jemand gerne "Rollenspiel in (pseudo-)historischem Szenario" möchte, so werden dessen Bedürfnisse beim Reenactment höchstwahrscheinlich nicht erfüllt.
Und warum sollte man für die Darstellung einer Rolle im LARP zwangsläufig eine weniger überzeugende Ausrüstung haben wollen als jemand der in den Sachen lediglich Leuten etwas über Geschichte erzählt. Ein guter Spielfilm sollte doch ähnlich gut ausgestattet sein wie eine gute Dokumentation.
Übrigens führt der Fantasy-Schriftsteller George R. R. Martin in seiner FAQ unter der Frage "How do you research your novels?" an erster Stelle ein namhaftes Reenactment-Buch auf.
Das Argument, wer Realismus oder historische Elemente im LARP wolle, solle doch lieber Reenactment machen, ist ähnlich sinnvoll, als wolle man im umgekehrten Fall ausrufen: "Wenn Ihr Fantasy wollt, dann geht doch ins Kino!" oder "Dann macht doch Cosplay!"
--RalfHüls, mit Zusätzen von BjörnK und AndrejPfeifferPerkuhn 2006-09-18
siehe auch Reenactment, ReenactmentErläuterung, FantasyRealismus, Genres/ReenLARPment