LarpMeinung: "Leben und sterben lassen"
Eine Abhandlung über den Tod im LARP
Das erste Ziel von LARP als Hobby sollte sein, daß alle Beteiligten Spaß an der Teilnahme haben. Wodurch sich dieser Spaß einstellt, ist von Teilnehmer zu Teilnehmer verschieden, es gibt unzählige Motive, sei es das Ausleben eigener Phantasie, das Betrachten merkwürdiger Gestalten und Vorgänge, Urlaub vom Büro, Nervenkitzel und Gefahr, wilder Kampf, bunte Gewandungen, gemütliches Zusammensitzen in der Taverne, Selbstdarstellung, Musik, Schnitzeljagd und Abenteuer, Zelten in der Pampa oder ein Waldspaziergang. Der Charakter eines Spielers ist dazu das wichtigste Element, er ist die Spielfigur. Ohne diese Figur ist keine Teilnahme möglich, wer seine Figur verliert, für den ist das Spiel und damit auch der Spaß beendet.
Nun kann es vorkommen, daß man im Laufe eines Spiels seine Spielfigur verliert, man nennt dies "sterben". Meist wird dies dadurch vollzogen, daß man von einem anderen Spieler, sei es SC oder NSC, einen "Todesstoß" gesetzt bekommt, oder eine SL erklärt, die Spielfigur hätte eine bestimmte Situation nicht überlebt. Dies mag logisch und konsequent sein, doch über die Auswirkungen sind sich nur wenige bewußt.
Im Kern geht es darum, einen vom Spieler gewählten Charakter darzustellen, glaubwürdig und konsequent, zur Unterhaltung und zur Freude der anderen Mitspieler, keinesfalls unbedingt zur Freude deren Charaktere, Stichworte Finsterlinge, Diebe oder Nervkobolde. Dieser Charakter sollte sich im Lauf der Zeit entwickeln, durch Reisen und Besuch diverser Spiele. Gemeint sind dabei in erster Linie nicht irgendwelche Erfahrungspunkte, Spieltage oder Fähigkeiten, sondern Erlebnisse, Geschichten, Bekanntschaften und Freundschaften. "Stirbt" der Charakter, gehen alle diese Dinge verloren, und der Spieler muß einen neuen Charakter aufbauen.
Mir geht es in diesem Text darum, auf die Tragweite eines solchen Vorgangs aufmerksam zu machen. Viele haben keine Vorstellung, welcher Aufwand teilweise hinter einem Charakter steht. Auch sind sich viele nicht bewußt, welche Macht sie per "Todesstoß" über andere Spieler haben. Es gibt wahrscheinlich kaum ein Hobby, bei dem man mit so wenig Aktion den weiteren Verlaufs des Hobbys eines anderen Spielers so grundlegend beeinflussen kann, bei dem ein einzelner mit einem Wort die Zukunft eines anderen so massiv ändern kann.
Warum sollte ein Charakter "sterben"?
Niemand lebt ewig, und schon Kästner sagte, das Leben sei immer lebensgefährlich. Es ergibt sich fast zwingend aus den Szenarien heraus, daß ein normaler Mensch (andere Wesen auf Wunsch) gewisse Aktionen nicht überleben kann. Ein einfacher Mord reicht schon, das Leben kann sehr zerbrechlich sein. Es erscheint unlogisch, daß eine Gruppe Helden in eine Riesenschlacht oder zum Kaffeebesuch in eine Niederhölle zieht, und dabei niemand auf der Strecke bleibt. Spielaktionen wie Mordanschläge oder sonstige Angriffe und Fallen verlieren ihre Relevanz, wenn die Konsequenzen ausbleiben, man stellt sich die Frage, warum man den ganzen Aufwand treibt. Ein weiterer Aspekt ist das Machtlimit. Solange mit Konzepten wie Spieltagen, Erfahrungspunkten und entsprechenden Regelwerken gearbeitet wird, werden die Charaktere im Lauf der Zeit immer mächtiger. Beim Pen&Paper-RPG oder Computer-RPG ist das kein Problem, wächst doch das Szenario mit den Helden mit. Auf einem Spiel sind aber meist alle Stufen vertreten, und irgendwann mag die Macht eines einzelnen Charakters unverhältnismäßig werden im Vergleich zu den anderen Charakteren, oder noch schlimmer, im Vergleich zum gebotenen Szenario. Daraus ergibt sich, daß auch im LARP Macht immer direkt mit Verantwortung verbunden ist. Je mächtiger ein Charakter wird, desto genauer muß sich der Spieler überlegen, was er mit dieser Macht anstellt. Leider gibt es etliche, die diese Überlegung nicht anstellen. Diesen Spielern setzt nun der "Tod" ihres Charakters das Limit.
Bleibt noch die Betrachtung einer wichtigen Auswirkung von Todesgefahr: Angst. Die Angst ist eine der stärksten Emotionen, und kann als Motivation Dinge leisten, die viele andere Motivationsansätze nicht zusammenbringen. Menschen in Todesgefahr können Leistungen erbringen, die ihr Körper und ihr Wille sonst nicht zulassen. Im LARP ist das nicht ganz so herb, denn es ist ja alles nur ein Spiel, oder? Wenn jedoch die Emotionen kochen und die Hormone die Kontrolle übernehmen, verschwimmt die Grenze. Manche halten das für übertrieben, für einige ist aber erst das der Kick am LARP. Fakt ist, daß heute Angst in vielen Szenarien als Hauptmotivation eingesetzt wird, sei es vor dem bösen Obermotz, der schwarzen Pest oder einer Horde grüner Killertomaten, äh, -orks. Ohne "Tod" würde diese Motivation fehlen, und viele Helden würden gar nichts mehr tun oder zumindest nicht mehr ernsthaft agieren. Somit ist die Angst vor dem "Tod" auch eine wirksame Sperre gegen Amokläufe - die bittere Konsequenz vor Augen läßt doch viele Spieler disziplinierter agieren, als sie dies gern täten.
Warum sollte ein Charakter nicht "sterben"?
Wie oben schon angerissen stellt der "Tod" der Spielfigur für den Spieler zuerst einmal schlicht das Ende des Spiels dar. Im Prinzip könnte der Teilnehmer einpacken und das Spiel verlassen, hätte er nicht schon das ganze Spiel bezahlt und sich bei einem Wochenspiel extra Urlaub genommen. Hier muß man Ausweichmöglichkeiten haben, zwei davon sind sehr beliebt: Erstens kann der Spieler einen Zweitcharakter einsetzen, falls vorhanden und mit der mitgeführten Ausstattung darstellbar. Spontan erschaffene Instant-Charaktere können problematisch sein, weiß der Spieler nicht mit ihnen umzugehen. Einige blödeln nur herum und stören mehr oder weniger gezielt das Spiel, andere treten amoklaufend als ihr eigener Rächer in Erscheinung. Zweitens kann der Spieler ins NSC-Lager wechseln, was allerdings wegen dem teilweise doch erheblichen finanziellen Unterschied und der je nach SL sehr ausdifferenzierten NSC-Konzeption problematisch sein kann, zudem kann so ein Spieler als NSC auch Motivationen und Verhaltensweisen an den Tag legen, die eher unerwünscht sind.
"Stirbt" der Charakter, kann die Gewandung und Ausstattung zu einem gewissen Anteil nicht mehr weiter verwendet werden, um Verwechslungen zu verringern, und der neue Charakter sowieso ganz anders ausstaffiert ist. Dies kann bei einigen Spielern zu Problemen führen, können doch sehr viel Zeit und Geld in der für diesen Charakter typischen Gewandung und Ausstattung stecken. Tauschen oder weiterverkaufen mag da zumindest finanziell ein kleiner Trost sein.
Der wichtigste Aspekt ist aber die psychische Auswirkung auf den Spieler. Ob man dies für erstrebenswert oder für bedenklich hält, es gibt Spieler, die sich sehr eng mit ihrem Charakter identifizieren. Ein Verlust kann weitreichende Folgen haben. Auch in weniger schwerwiegenden Fällen kann man beobachten, daß der "Tod" eines Charakters fast immer als Niederlage empfunden wird, und niemand verliert wirklich gern. Ein Spieler, dessen Charakter "stirbt", verläßt das Spiel meist deutlich weniger fröhlich als die anderen Spieler, manche tragen schwer an ihrem Frust. Neben dem Spieler an sich ist auch von Bedeutung, wie der Charakter "verstorben" ist. Manche Situationen sind einsichtig, andere hingegen eher nicht.
Bleiben die langfristigen Auswirkungen eines "Todes". Es gibt Spieler, die mit ihrem Charakter noch einiges vorhaben. Sei es eine Mission, eine geplante Weiterentwicklung, der Besuch diverser Spiele, zu denen sie vielleicht schon angemeldet sind, oder eine vorgesehene Reise mit einer Gruppe anderer Charaktere. All dies kann mit einem Wort schon hinfällig werden, und den Spieler in erstaunliche Schwierigkeiten oder zumindest viel zusätzliche Arbeit stürzen.
Weitere Ansichten ...
Der "Tod" ist wie nun dargelegt ein sehr einschneidendes Ereignis im LARP, es verbietet sich also der fahrlässige oder gedankenlose Umgang damit. Ich vertrete die Meinung, daß der "Tod" eines Charakters nur als Ultima Ratio, als allerletztes Mittel eingesetzt werden sollte. Die realen Auswirkungen auf den Spieler und seine Vorstellung von LARP, sein Hobby und seinen Spaß sind so groß, daß im Zweifelsfall die gespielte Logik wie fähige Killer oder Ausfallraten bei Schlachten zurückstehen sollten.
Der Grundsatz ist, daß der "Tod" nur dann eingesetzt werden sollte, wenn es der Charakter wirklich verdient hat. Dabei sollte man natürlich andere Maßstäbe anlegen als in der Realität, in der die Teilnahme an einer Schlacht schon problemlos ausreicht. Sicher, wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, aber nach diesem Motto dürfte ein durchschnittlicher Charakter keine fünf Spiele überstehen. Selbst wenn es der Spieler darauf anlegt, seinen Charakter einzusetzen, zum Beispiel im freiwilligen Zweikampf gegen den Höllenfürst, oder als erster Erkunder im Drow-Labyrinth, eine faire Chance sollte immer gegeben sein, und zwar für jeden. Prozentuale Abschußquoten oder würfelnde SLs halte ich für völlig unerträglich, solche Dinge kommen aber leider vor.
Zuletzt ein Aspekt, der auch mit Motivation zu tun hat, aber oft völlig unterschlagen wird. Der "Tod" als Ultima Ratio stellt immer eine Bestrafung für den Spieler dar. Warum wird ein Spieler bestraft, der das Szenario annimmt, sich mit dem Plot und seinen Gefahren befaßt, der versucht mitzuspielen? Die, die aus Angst in der Taverne beim Bier sitzen bleiben und die Orks im Wald ignorieren, diese Spieler setzen ihren Charakter vorsätzlich kaum einer Gefahr aus. So ist das Fazit vieler Spiele: Bestrafung derer, die sich anstrengen, und Auszeichnung der Teilnahmslosen durch EP- und Spieltage-Bestätigungen.
Welche Lösungsmöglichkeit?
Der "Tod" sollte nur selten eingesetzt werden, wenn alle anderen Möglichkeiten vorher ausgeschöpft wurden. Es ist selbstverständlich notwendig, daß ein Charakter Sanktionen für sein Tun erfährt, der "Tod" ist aber wenig tauglich, denn spielen kann man damit nicht mehr, von Beerdigungszeremonien und Trauerfeierlichkeiten einmal abgesehen. Es scheint sinnvoller, dem Charakter Andenken mit auf dem Weg zu geben, an denen er eine Weile zu kauen hat, und deren Umfang abhängig von seiner Aktion sein sollten. Dies mag bei einem Diebstahl eine Beule, bei einem Straßenraub eine schwere Verletzung und bei einem Ringkampf mit dem Dämon ein Fluch, Wahnsinn oder Verstümmlungen sein. Diese Auswirkungen werden leider ähnlich selten angewendet wie Gefangennahme oder Verschleppung, bei entsprechenden Spielen könnte sich hieraus sehr schönes Spiel entwickeln.
Es mag dagegen gehalten werden, daß diese Nachteile selten konsequent ausgespielt werden, oder wenn, dann schnell zwischen Mittagessen und Nachmittagskaffee geheilt werden. Gute Spieler werden solche Konsequenzen gern ausspielen, einige sind schon zwei Spieltage lang mit selbstgebauter Krücke auf einem Bein herum gehüpft, nur wegen eines einfachen Kampfes. Spieler, die auf solche Nachteile keinen Wert legen, werden auch den "Tod" überlisten, sei es durch Wiederbelebung beliebiger Art oder schlichtes Ignorieren. Wenn man es nicht auf seinen Charakterbogen schreibt, und es niemand großartig mitbekommen hat, kann man mit einer passenden Geschichte dazu das Ereignis notfalls auch schnell retuschieren. Welche SLs tauschen dazu schon Informationen aus, außer in sehr bekannten oder spektakulären Fällen?
Nicht zuletzt ist da das Grundrecht eines Spielers, den Charakter zu spielen, den er spielen möchte, ganz unabhängig von der Vorgeschichte oder von Ereignissen auf früheren Spielen. Ob das fair ist oder nicht - es muß schon jeder Spieler selbst mit sich ausmachen, ob er noch ein gutes Gewissen hat, mit diesem oder jenem Charakter (wieder) aufzutreten. Die Zulassung für ein Spiel liegt davon abgesehen in Händen der jeweiligen SL, und diese legen bekanntermaßen oft sehr unterschiedliche Maßstäbe an. Mir ist eine vorherige Wiederbelebung nicht so wichtig im Vergleich zu schönem Spiel und überlegtem Umgang mit Fähigkeiten. So hart es klingt, ich mache als SL beim Einchecken das Zuerkennen von Fähigkeiten vom Spieler abhängig; bei manchen weiß man, daß sie damit richtig umgehen können, bei anderen mag es berechtigte Zweifel geben.
Eine mögliche Lösung
Der Spieler entscheidet selbst, ob und wann der Charakter "stirbt". Dieser meiner Ansicht nach sehr interessante Ansatz stammt nicht von mir, sondern aus dem Tikon-Regelwerk, auch bekannt als "OpferRegel". Ich halte diesen Ansatz deshalb für interessant, weil er die freie Entscheidung über den Charakter und das ganze Hobby dorthin legt, wohin sie gehört, nämlich in die Hände des jeweiligen Spielers. Allein den betroffenen Spieler halte ich für kompetent und berechtigt, über den weiteren Fortgang seines Hobbys zu entscheiden. So mag es vorkommen, daß ein Spieler entscheidet, den "Todesstoß" anzunehmen, weil er des Charakters sowieso schon überdrüssig war und nur noch einen heldenhaften Abgang gesucht hat, oder weil er es für stimmiger und konsequenter hält, oder warum auch immer. Andere mögen entscheiden, lieber mehr oder weniger verletzt (hier mag auch die SL ein Wörtchen mitreden) zu überleben, weil die nächsten drei Spiele schon gebucht sind, die dortige SL schon einen für diesen Charakter gedachten Plot gestrickt hat, die Gewandung nagelneu und sehr teuer war, oder warum auch immer. Für beide Entscheidungen habe ich oben Motive aufgeführt.
Sicher mag diese Regelung die Entscheidungsbefugnis der SL beeinträchtigen, allerdings endet diese so oder so mit Ende des Spiels, wenn der Spieler den Charakter wiederbeleben möchte, gelingt ihm das auf jeden Fall.
P.S. Der "Erfinder" (Name dem Autor dieses Essays bekannt) des "Todesstoßes" hält, nun mehr als zwölf Jahre später, seine Erfindung und deren Eingang in die diversen Regelsysteme für seine schlechteste Tat, die er je im deutschen LARP begangen hat.
-- HannesGnad, (c) 1998 - 2004
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Siehe auch Tod